Rosenblätter Kommunikationsberatung

Oft werden wir gefragt, was in unseren Coachinggesprächen eigentlich passiert. Im folgenden Blog zeigt Christian Rosenblatt anhand eines Fallbeispiels zwei verschiedene Herangehensweisen.

Sebastian K. ist Entwicklungsingenieur und arbeitet seit Abschluss seines Studiums vor 4 Jahren in einem mittelständischen Unternehmen, welches kürzlich von einem größeren  Technologiekonzern aufgekauft wurde. Aufgrund seiner guten Leistungen wurde er im Rahmen einer Umstrukturierung zum Teamleiter ernannt. Sein neuer Verantwortungsbereich bringt es nun mit sich, dass er neben seinen fachlichen und organisatorischen Aufgaben fünf Kollegen zu führen hat.

Ein fatales Missverständnis

Einer der Mitarbeiter Sebastians, Herr S., ist deutlich älter und verfügt über etliche Jahre mehr Berufs- und Unternehmenserfahrung als er selbst. Sebastian hat das Gefühl, dass dieser Mitarbeiter den Kontakt zu ihm zu vermeiden versucht. In Meetings hinterfragt Herr S. Sebastians Statements und Entscheidungen sehr kritisch und lenkt, selbst wenn ihm die Argumente ausgehen – nur widerwillig ein. Kein Wunder, dass Sebastian zunehmend verunsichert reagiert, was die Sache nicht einfacher macht.

Sebastians Vorgesetztem bleibt diese Dynamik nicht verborgen. In einem Mitarbeitergespräch bekommt Sebastian daher den Rat, an „seinem Standing zu arbeiten“. Sein Vorgesetzter ist bereit, dies mit drei Coachingsitzungen zu unterstützen. Sebastian soll die Begleitung insbesondere dafür nutzen, die anstehenden Mitarbeiterjahresgespräche vorzubereiten.

Als Sebastian zu mir ins Coaching kommt hat er große Bedenken, wenn er an das anstehende Gespräch mit Herrn S. denkt. Er weiß, dass dies die Gelegenheit ist, das schwierige Miteinander anzusprechen und eine Klärung zu suchen. Gleichzeitig hat er Angst, dass Herr S. ihn auflaufen lassen wird. Sebastian vermutet, dass Herr S. ihm seine Position neidet, dass er wohl selbst gern Teamleiter geworden wäre und daher keine Situation ungenutzt lassen wird, um Sebastians Autorität zu untergraben.

Um Sebastians Vorannahmen über Herrn S. zu überprüfen, arbeiten wir mit der Methode „4 Landkarten – ein Gebiet“, ein Format, das auf dem Wechsel zwischen verschiedenen Perspektiven basiert. Nach einer Weile gelingt es Sebastian recht gut, sich in Herrn S. hineinzuversetzen. Zusätzlich schafft er es, die vergangenen Situationen auch aus einer distanzierten Perspektive – der sogenannten Metaposition - zu reflektieren.

Bei dieser Übung macht Sebastian eine erstaunliche Entdeckung: Herr S.‘s Interesse ist es gar nicht, Sebastian als Führungskraft zu „demontieren“! Eigentlich ist für Herrn S. Sebastian als Person sogar relativ egal. Denn ihm geht es vor allem um die Sache!  Er selbst nimmt somit auch gar keine Störung in der Beziehung zu Sebastian wahr.

Herr S. ist es wichtig, den Dingen auf den Grund gehen. Er hinterfragt und tüftelt meist so lange, bis er sich selbst ein fundiertes Bild von allen Hintergründen gemacht hat. Und da ihm selbst Beziehung, Macht und Status nicht so wichtig sind, hätte er auch gar kein Interesse an der Rolle als Teamleiter gehabt.

Nun wird Sebastian endlich klar, was die Kollegen, die Herrn S. schon länger kennen, gemeint haben: Herr S. sei ein Eigenbrötler. Sebastian solle dessen Verhalten bloß nicht persönlich nehmen und ihn einfach seine Arbeit machen lassen.

Auf der Basis dieser Erkenntnisse entwickeln wir für das anstehende Mitarbeitergespräch mit Herrn S. eine Strategie. Ziel des Gespräches sollte sein, dass Sebastian seine neuen Erkenntnisse über Herrn S. überprüft und dessen Sichtweisen noch besser versteht. Anschließend wollte er zusammen mit Herrn S. ein Aufgabenportfolio für das kommende Jahr erarbeiten, in dem Herr S. möglichst viel für sich alleine tüfteln und der Abteilung einen guten Mehrwert verschaffen könnte.

In unserer abschließenden Sitzung berichtete Sebastian von einem konstruktivem Verlauf des Mitarbeitergespräches mit Herrn S. und guten Fortschritten in der Zusammenarbeit mit ihm. Zwar tut sich Sebastian manchmal immer noch etwas schwer, mit Herrn S’s „etwas schroffen Art“ zurechtzukommen. Ihm gelingt es aber bereits viel besser, dessen Interaktionen nicht mehr persönlich zu nehmen und Herrn S. Talente gut zu nutzen.

Wer bin ich und - wenn ja – wie viele?

Etwa ein dreiviertel Jahr später meldet sich Sebastian telefonisch bei mir. Ob ich auch direkt mit ihm arbeiten würde? Er müsse mal ganz grundsätzlich ein paar Dinge für sich sortieren und davon solle sein Vorgesetzter nichts wissen. Er bittet mich um ein Angebot, um mit ihm mal „seine Situation zu betrachten“.

Als Sebastian zur Sitzung erscheint, wirkt er müde und energielos auf mich. Die Sache mit Herrn S. hat er mittlerweile grundsätzlich ganz gut im Griff, berichtet er. Allerdings tut er sich dennoch mit seiner Führungsaufgabe zunehmend schwer und wäre bis zum heutigen Tage nicht so richtig in dieser Rolle angekommen. Das wäre schon ganz zu Beginn damit losgegangen, dass er sich zunächst eigentlich gar nicht um eine Führungsaufgabe beworben hatte. Als aber sein Vorgesetzter ihn angesprochen hat, ob er mehr Verantwortung übernehmen wolle, hätte er sich geschmeichelt gefühlt. Auch der zusätzliche Verdienst reizte ihn. Was dieser Schritt aber konkret für ihn bedeute, darüber hatte er sich damals wenig Gedanken gemacht. Die Abteilung wurde neu strukturiert und er solle sein Team aufbauen. Sein Vorgesetzter sagte ihm dabei Unterstützung zu.

An einen geordneten Aufbau war allerdings seit längerem schon nicht mehr zu denken. Im gesamten Segment ginge es zur Zeit ziemlich drunter und drüber. Arbeitsaufgaben und Prioritäten änderten sich ständig. Sein bester Mitarbeiter sei ohne Rücksprache abgezogen und in eine andere Abteilung umgesetzt worden. Sebastian selbst sei dabei vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Und auf die Rückfrage seiner verunsicherten Mitarbeiter, was eigentlich der große Plan hinter all dem sei, weiß er selbst keine Antwort. Die Stimmung unter seinen Leuten wird zusehends schlechter. Ihm selbst gehe allmählich die Kraft aus.

Als wir mit Abstand betrachten, wie er in diese Situation geraten konnte wird schnell deutlich: Er selbst hatte zu der Zeit seiner Ernennung als Teamleiter für sich und seine Lebenssituation keine nennenswerten Visionen. Die fachliche Arbeit hatte ihm Spaß gemacht und er konnte sich schon vorstellen, in diesem Unternehmen irgendwie Karriere zu machen. Mehr Klarheit hatte er damals jedoch nicht. Für seine Vorgesetzten war das praktisch: Sie wussten selbst nicht genau, wo die Reise hingehen sollte und Sebastian hatte keine Ansprüche und stellte kaum Fragen. Sebastian wird nun klar, dass sein mangelndes Selbstverständnis und seine Unklarheit über seine Werte und Visionen ihn in genau diese Situation gebracht hatten. Und wenn er an seiner Situation etwas ändern wollte, dann müssten wir genau dort ansetzen.

Zunächst arbeiteten wir Sebastians Werte heraus. Ihm wurde bewusst, dass ihm Verlässlichkeit, Loyalität und Gemeinschaft immer wichtige Aspekte seines Lebens gewesen waren. Sebastian ist leidenschaftlicher Basketballer und ist es gewohnt, miteinander und füreinander zu kämpfen. Auch in seiner beruflichen Laufbahn gab es solche Momente, in denen nicht auf die Uhr geschaut und alles daran gesetzt wurde, um ein Projekt zum Abschluss zu bringen. Die Aussicht auf den gemeinsamen Erfolg hat ihn stets beflügelt und auch über schwierige Situationen hinwegsehen lassen.

Wir entwickeln eine Vision. In seiner Vorstellung sieht er sich ein Team leiten, in der große fachliche Herausforderungen gemeistert werden und alle füreinander einstehen. Als ich ihn frage, ob er eine Chance sehe, dies in seinem aktuellen Kontext zu verwirklichen meint er: „Die Arbeit stimmt, und das Miteinander auch. Es ist die mangelnde Kontinuität und Transparenz innerhalb des Unternehmens, was es so schwer macht.“

Bisher hat er immer gedacht, es läge an ihm, dass er mit der Situation so schlecht zurechtkommt und hat sich daher nie getraut, mit seinem Vorgesetzten darüber zu reden. Nun aber beschließt er, mit seinem Chef  das Gespräch zu suchen. Er will ihm Rückmeldung darüber geben, wie die Situation für ihn und sein Team sei, will seine Vision mit ihm teilen und ihn an sein Unterstützungsversprechen von vor einem Jahr erinnern.

Einige Tage später meldet sich Sebastian per Mail. Er hat mit seinem Chef gesprochen und ist froh, bei ihm auf Verständnis gestoßen zu sein. Sein Vorgesetzter hätte ihm versichert, dass er genau wüsste, wie herausfordernd die Situation im Moment für Sebastian und sein Team sei. Er gehe aber davon aus, dass es bald mehr strategische Klarheit gäbe, und auch die Umstrukturierungen würden allmählich greifen. Es müsse sich noch einiges konsolidieren, aber das wird schon. Bis dahin bitte er Sebastian noch um etwas Geduld.

Einige Monate später meldet sich Sebastian erneut. Die Vision, die wir gemeinsam erarbeitet haben hätte ihn nicht mehr losgelassen. Doch er sei weiter davon entfernt denn je. Im Unternehmen herrsche nach wie vor „der ganz alltägliche Wahnsinn“. Er wisse von einem seiner Mitarbeiter, der sich mittlerweile wegbewirbt. Die Stimmung im gesamten Bereich ist ziemlich im Keller.

Er selbst sei irgendwie wie gelähmt. Es fühle sich so an, als hätte er seinem Chef das Versprechen gegeben, bei der Stange zu bleiben, auch wenn er „selbst dabei vor die Hunde geht“. Sebastians Loyalität scheint ihn auch in solchen Situationen zu binden, in denen es für ihn bedrohlich wird. Ein Freund habe ihm vor kurzem gesagt, dass in seiner Firma dringend Leute wie er gesucht würden. Sich aber anderweitig zu bewerben fühlt sich für Sebastian an wie Verrat.

Im Coaching schauen wir uns dieses Muster genauer an. Sebastian wird bewusst, dass es immer wieder Situationen in seinem Leben gab, in denen er sich durch Loyalität länger gebunden fühlte, als das gut für ihn war. Ihm fällt ein, dass er zu Studienzeiten Mitglied einer Lerngruppe war, in der im Laufe der Zeit die Disziplin immer mehr auf der Strecke blieb. Anstatt sich zu verabschieden und die Zeit fürs Selbststudium zu nutzen, blieb er in der Gruppe und vermasselte zwei Klausuren. Und einer früheren Freundin blieb Sebastian über Monate noch treu, obwohl diese schon lange nicht mehr daran dachte.

Sebastian wird bewusst, wie sehr ihn an dieser Stelle Loyalität daran hindert, seinen Weg konsequent zu gehen. Im Rahmen einer Glaubenssatzveränderung beginnt er schließlich, seine bisherige Überzeugung „Ein Commitment ist dazu da, gehalten zu werden; auch dann, wenn es mich was kostet“ zu hinterfragen und in Zweifel zu ziehen.

Der neue Glaubenssatz, den wir gemeinsam herausarbeiteten und den Sebastian schließlich gut für sich annehmen konnte lautet: „Indem ich in schwierigen Situationen Verantwortung für mich übernehme, ermutige ich auch andere zur Verantwortung“. Sebastian verließ unsere Sitzung ohne konkrete Pläne, aber recht optimistisch. „Mal schauen, was jetzt kommt...“

Danach hörte ich einige Monate lang nichts von ihm. Schließlich erfuhr ich von einem anderen Mitarbeiter des Unternehmens, dass Sebastian in den Norden gezogen sei, wo er in das Unternehmen eines Freundes eingestiegen ist.

 

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